Der Tiger, der nie einer war

(NZZ Folio März 2006)

von Jeroen van Rooijen

Es gibt ein paar Dinge, die im Langzeitgedächtnis vieler Schweizerinnen und Schweizer einen Ehrenplatz in der Rubrik «liebste Kindheitserinnerungen» haben: Bernhard Russi, die Ovomaltine und die Tigerfinkli. Generationen von Kindern zwischen Genf und St. Margrethen haben den herzigen Kinderschuh mit dem roten Pompon getragen.

Seit 1938 werden die Tigerfinken gefertigt, lange in Fehraltorf, wo die Manufaktur des Erfinders Edi Glogg ansässig war und in Spitzenzeiten 80 000 Paar pro Jahr herstellte. Nach Gloggs Konkurs ging die Produktion im thurgauischen Diessenhofen bei der Russ & Co. weiter.

1986 kaufte der Innerschweizer Hans-Ruedi Dussling die Firma, sicherte sich damit die Rechte an dem Klassiker und wandelte die Firma in die Tiger Swiss AG um. Vier Jahre später erkannte Dussling, dass er den Schuh nicht länger zu marktfähigen Preisen in der Schweiz würde herstellen können, und verlegte die Produktion in ein eigens gegründetes Tiger-Swiss-Werk im polnischen Wagrowiec. Dort weht über dem Dach nun eine grosse Schweizer Fahne. Im Hof wachen Schäferhunde, Hans-Ruedi Dusslings Lieblingstiere. Drinnen arbeiten 35 Paar Hände, um jährlich rund 20 000 Paar des Kinderschuh-Klassikers zu fertigen.

Zuerst werden die Schnittteile vorbereitet: für jede Grösse (von 16 bis 47) gibt es separate Stanzeisen. Der Bout, das rote Kappenleder auf der Zehenpartie, wird festgeleimt und dann abgesteppt. Nach dem Annähen der Ristriemchen wird das Schaftstück an der Fersennaht zusammengenäht, die Nähte werden abgeschliffen und die Zwickschnur eingezogen, mit der das Schühchen später über den Leisten gezogen wird. Vorher muss allerdings die Hinterkappe eingenäht und müssen die roten Einfassbänder und der flauschige Pompon befestigt werden.

Auf dem Leisten wird das Tigerfinkli dann gezwickt, ausgeballt und schliesslich auf die Sohle geklebt, die aus einem robusten Naturleder sowie einem Gummiabsatz besteht. Vor dem Ausleisten werden die Sohlenränder abgefräst, dann der Druckknopf auf dem Riemchen eingepresst. Nach einer halben Stunde Arbeit erfolgen die letzten «kosmetischen» Schritte: das Anmalen der Sohlenränder sowie das Frisieren des Pompons. Dazu wird dieser erst mit Druckluft aufgeblasen und dann schön rund geschnitten.

Woher die Tigerfinken ihren Namen haben, weiss auch Hans-Ruedi Dussling nicht mit Sicherheit. Das Muster des Schuhs zeigt ein Giraffen- oder allenfalls ein Leopardenfell, aber niemals das eines Tigers. Dem gleichnamigen, in Asien verbreiteten Vogel sieht der Schuh auch nicht ähnlich. Vermutlich hat sich der Name eingebürgert, weil die Hauptzielgruppe, also Kinder im Vorschulalter, den Schuh so nannten. Tiger, Leoparden oder anderes Dschungelgetier – ist doch für Kinderaugen einerlei. Schon zu Zeiten von Edi Glogg war der Name in Gebrauch.

Auch sonst hat sich beim Tigerfinkli nicht viel geändert. Zwar hatte es früher statt eines Druckknopfs einen kleinen Glasknopf (ein Tigerauge?), und der Pompon war aus Wolle statt aus Polyester. Doch sonst wird der Schuh noch immer so gefertigt, wie ihn Edi Glogg zuletzt produzierte.